Rauschen und Schwellen

von Michael Stegmann

Keuchend stapfte er durch den frischen Schnee, ließ mit jedem Schritt und Atemzug ein Nebelwölkchen hinter sich, gleich einer Lok, die ihren Dampf in den Himmel stößt. Er blieb stehen, lauschte, schaute sich um. Nein, er war alleine. Wer sonst, außer ihm, würde sich an einem solch polarkalten Morgen einen verschneiten Bahndamm hinaufquälen, noch dazu in profillosen Turnschuhen. Nur noch ein paar Schritte, dann habe ich es geschafft, dachte er und verlor beinahe den Halt, als der lockere Schnee unter seinen Füßen nachgab und wie eine kleine Lawine die Böschung hinunterglitt. Er konnte sich und die Plastiktüte, die er umklammert hielt, gerade noch halten, um der kleinen Lawine nicht zu folgen.
„Verdammt!“ Warum musste es letzte Nacht nur so schneien? Morgen, ja morgen hätte es bis in alle Ewigkeit schneien können, da wäre es ihm gleich gewesen, dachte er.
„Morgen ist mir alles egal!“
Ein kurzer Blick in die Tüte - er atmete auf - der Inhalt war unversehrt geblieben. Er setzte seinen Weg zum Scheitel des Bahndammes mit Entschlossenheit fort.
„Nur noch ein paar Schritte, ein paar Schritte…“
…und er stand auf dem weißen unberührten Kiesbett eines Gleises, dass an einem Waldrand entlang geradewegs in einen Tunnel führte. Er gönnte sich einige Atemzüge, bevor er sich nochmals davon überzeugte wirklich alleine zu sein.
Nein, hier war niemand. Noch nicht einmal er war hier, denn er fühlte sich leer und kalt. So leer und kalt, wie die dunkle Tunnelröhre, die ihn wie ein schwarzes Loch in Mitten der weißen Winterlandschaft zu verschlingen schien. Mit bloßen Händen befreite er eine der Schwellen vom Schnee und ließ sich mit dem Rücken zum Tunnel nieder. Ein paar mal hauchte er seinen kalten Fingern Gefühl ein bevor er eine Flasche Whiskey aus der Tüte hervorholte. Er hatte sie für eine ganz besondere Gelegenheit aufgehoben, und diese Gelegenheit würde an diesem Morgen sein. Ein kurzer Blick auf die Uhr erinnerte ihn daran, dass es nicht mehr lange dauern würde bis der Zuge käme. Ja, dieser Zug würde ihn von den Schwellen fegen und in die Ewigkeit katapultieren wie ein Schneepflug, der mühelos einen einsamen Schneemann bei Seite räumt.
Schnell, so schnell wie es nun mal mit halb erfrorenen Fingern ging, öffnete er die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck Whiskey, so als wäre es nur Pfefferminztee. Dann nahm er noch einen zweiten und dann einen dritten.
Was war das? War das das Rauschen des herannahenden Zuges? Nein, jetzt bloß nicht umdrehen, dachte er.
„Du bleibst sitzen, du bleibst sitzen, ein Mal in deinem verdammten Leben ziehst du eine Sache mit Erfolg durch, nur ein einziges mal.“
Angestrengt lauschte er in die Tunnelröhre, doch das Rauschen wurde nicht lauter und es kam auch kein Zug. Das war auch nicht möglich, denn es war nur das pulsierende Blut, welches angefacht von dem Feuer des sechzehn Jahre alten Whiskeys, wie ein Intercity durch seine Adern rauschte. Mit einem Gemisch aus Erleichterung und Enttäuschung nahm er einen weiteren Schluck Feuerwasser, just in dem Augenblick, als vereinzelte Sonnenstrahlen seine Augen zum blinzeln brachten…
„Warten Sie auf den Siebenuhrfünfundvierziger?“
Das Prusten hallte laut durch den Tunnel, als er sich an dem Whiskey verschluckte.
„Wer…zum Teufel…, wie bitte?“
„Der Siebenuhrfünfundvierziger wird nicht um siebenuhrfünfundvierzig kommen.“
Ein hagerer alter Mann mit Schirmmütze, Schal, Stock und einem abgetragenen Wollmantel, der zwei Nummern zu groß schien, stand neben dem Gleis, dort wo der junge Mann sich niedergelassen hatte. Der Alte lächelte den jungen Mann freundlich an.
„Ich schätze, Sie werden sich noch etwas gedulden müssen, junger Mann.“
Völlig überrascht von dem unerwarteten Besuch, ließ der Mann auf der Schwelle die Whiskeyflasche neben sich in den Schnee sinken.
„Woher…wollen Sie das wissen?“
„Nun, ich habe es eben im Radio gehört, oder hat es mir jemand erzählt? Ich weiß es nicht mehr, aber auf jeden Fall sind die Weichen eingefroren, es gibt Verzögerungen. Sie wissen schon, die Bahn kommt eben nicht immer pünktlich.“
Bei dem Wort „pünktlich“ zwinkerte er dem jungen Mann, der immer noch auf der Gleisschwelle saß, verschwörerisch zu, so als wolle er sagen, dass die Bahn noch nie pünktlich gewesen sei.
„Ah, und wann wird, wird…“
„…der Zug kommen? Das weiß man nie so genau. Fünf Minuten, fünf Stunden. Sie fahren wohl nicht viel mit dem Zug, was?“
„Ähm, nein. Sie etwa?“
„Nein, ist mir zu unpünktlich“, sagte der Alte, worauf beide lachen mussten.
„Falls es Ihnen recht ist, können wir uns ja etwas die Zeit vertreiben, bis der Zug kommt, aber nur wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Eigentlich, …ich meine, ich…“
„Kommen Sie, wir können ja ein Stück den Bahndamm entlang schlendern. Wenn ich zu lange auf einem Fleck bleibe, friert mir wohlmöglich noch mein rechtes Bein fest.“
„…aber der Zug?“
„Sie können ja auf dem Gleis bleiben während wir ein Stück gehen. Sie wissen schon, damit Sie den Zug nicht verpassen. Ich, für mein Teil, möchte lieber neben dem Gleis gehen. Es ist etwas schwierig für mich mit meiner Beinprothese über die Bahnschwellen zu wandern“, sagte der Alte und tippte mit seinem Stock gegen sein rechtes Bein, welches mit einem dumpfen „Pock“ antwortete.
„Möchten Sie dem Zug entgegen oder doch lieber in die andere Richtung gehen?“
Noch immer verwirrt von der heiteren Art des Alten und angesäuselt vom Whiskey, erhob sich der Mann langsam von der Schwelle und blickte zum Tunneleingang.
„Nicht in den Tunnel“, sagte er leise.
„Was meinten Sie, junger Mann? Meine Ohren sind nicht mehr die Besten.“
„Dort lang“, sagte der junge Mann und deutete vom Tunnel weg in die frühmorgendliche Winterlandschaft.
„Das ist gut, ich habe nämlich seit dem Krieg Probleme mit engen, dunklen Räumen“, sagte der Alte sichtlich erleichtert und setzte sich hinkend in Bewegung. Der junge Mann folgte ihm etwas unsicher auf dem Gleis. Die aufgehende Sonne ließ den Schnee glitzern und schon bald wurde das schwarze Loch des Tunnels hinter ihnen immer kleiner.
„Sie waren im Krieg?“
„Ja, war eine scheußliche Zeit. Ich war kaum jünger als Sie. Wir hockten monatelang in dreckigen, dunklen Bunkern, wurden bei einem Bomberangriff eingeschlossen, verschüttet und lebendig begraben. Deshalb keine Tunnel, Sie verstehen?“
Der junge Mann nickte.
„Habe in jenen Tagen mein Bein dort gelassen. Aber besser nur mein Bein, als das, was noch mit dranhängt“, sagte er und lächelte.
„Wie konnten Sie das nur durchstehen?“
„Och, es gibt Schlimmeres“, sagte der Alte und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann begann der Alte dem jungen Mann die Geschichte seines Lebens zu erzählen.
Schritt um Schritt ließen sie die Bahnschwellen hinter sich wie Lebensjahre aufgereiht an einer Perlenschnur.
Zwischen dem Wirtschaftswunder und den 68ern bot der junge Mann dem Alten seinen mittlerweile eisgekühlten Whiskey an. „Möchten Sie einen Schluck?“
„Nein danke, ich trinke seit dreißig Jahren nicht mehr, bin sozusagen trocken. Hätte mich beinahe ins Grab gebracht, zu meiner Frau.“
Der junge Mann schaute etwas verlegen auf die Flasche.
„Ich hab's nicht verkraften können, dass sie gegangen ist. Mit ihr ging unsere Zukunft, dachte ich damals. War ziemlich am Ende.“
„Und dann, was haben Sie dann gemacht?“
„Ich habe aufgehört als sie mir sagte, dass ich aufhören soll.“
„Äh, wie…, sie…sie war doch tot?“
„Sie hat in meinen Träumen zu mir gesprochen. Das tut sie übrigens heute immer noch. Und sie ist der Meinung, dass es besser wäre, wenn Sie Ihren Schnürsenkel zubinden, bevor Sie drüber fallen und sich den Kopf am Gleis aufschlagen.“
Verwirrt von der Bemerkung des Alten - oder war es wirklich der Hinweis seiner toten Frau - schaute er an sich herab, trat just auf den losen Schnürsenkel, strauchelte und fing sich wieder; jedoch verlor er die Flasche, welche mit einem lauten Knall auf dem stählernen Gleis zerbrach.
„Sehen Sie, so ein loser Schnürsenkel kann gefährlich werden. Ach, und was den Whiskey angeht, den trinkt man besser ohne Eis. Zu viel Eis verdirbt das Aroma.“
Ohne der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die sich rasch mit dem Schnee vermischte, weitere Beachtung zu schenken, stakste der Alte weiter.
„Kommen Sie, kommen Sie!“, rief er dem jungen Mann zu und wedelte mit seinem Stock.
„Und vergessen Sie Ihren losen Schnürsenkel nicht!“
Immer noch sichtlich verwirrt, brachte der junge Mann seinen Senkel in Ordnung und folgte dem Alten.
Als sie so einige Zeit unterwegs waren, blieb der junge Mann stehen und blickte in die Augen des Alten, die nach all den Jahrzehnten eines bewegten Lebens offensichtlich nichts von ihrem jugendlichen Strahlen eingebüßt hatten. „Was Sie erlebt haben reicht für ja mehrere Leben.“
„Ja, da könnten Sie Recht haben. Mehr als einmal hätte es mit mir zu Ende sein können, und jedes mal, wenn ich vor der Schwelle des Jenseits stand und kehrt machte, war es für mich wie der Beginn eines neuen Lebens mit neuen Chancen, neuen Aufgaben und neuen Freuden. So gesehen habe ich schon einige Leben gelebt.“
Er machte eine kurze Pause, dann sagte er: „Und von all denen ist mir das hier das liebste.“

Keiner der beiden bemerkte das Rauschen; ein Rauschen, das immer stärker wurde und welches das Herannahen eines Zuges ankündigte, eines schnellen Zuges. Eine weiße Wolke aus feinen Schneeflocken, aufgewirbelt von einer Lok, die unbeirrt ihrem Weg folgte, glitzerte in der Sonne und ließ beide Wanderer für einen kurzen Augenblick verschmelzen. Als der Zug sich entfernt und alle Flocken wieder ihren Platz gefunden hatten, wischte sich der Alte den Schnee aus seinem Gesicht und ließ ein Lächeln zu Tage treten.
„Ich schätze, Sie haben soeben Ihren Zug verpasst.“
Wie eine Bestätigung aus der ferne hörte man das Signalhorn des Zuges.
„Was, was ist passiert? Wieso bin ich…?“
Der Alte zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Vielleicht war es ja doch nicht Ihr Zug, vielleicht aber sind Sie vorhin an der Weiche ja auch nur vom Weg, ich meine natürlich vom Gleis abgekommen.“
„Welche Weiche?“
„Na, die Weiche dort drüben, wo Sie den guten Scotch ‚abgelegt’ haben.“
Der junge Mann schaute, benommen vom Schock und bepudert vom Schnee, zu der Stelle zurück, an der er über seinen Schnürsenkel gestolpert war – tatsächlich, dort war eine Weiche, die er offensichtlich vorher nicht bemerkt hatte. Er musste dem rechten Gleis gefolgt sein, wogegen die Haupttrasse schnurgerade aus weiter verlief.
„Wollen Sie auf den nächsten Zug warten?“, fragte der Alte mit dem verschmitzten Grinsen eines siebenjährigen Lausbuben.
Der junge Mann schaute in die frech-fröhlichen Augen des Alten, atmete tief ein und schüttelte schließlich seinen Kopf. Feine Eiskristalle rieselten glitzernd auf seine schneedurchnässten Turnschuhe.
„Nein…nein, ich denke nicht.“
„Sicher?“
„Sicher.“
„Gut, denn ich kann Sie jetzt nicht mehr länger begleiten. Ich habe noch etwas zu erledigen und das liegt nicht auf diesem Weg hier“. Kaum ausgesprochen, drehte er sich um und stieg die Böschung hinab.
Noch während der junge Mann sich völlig perplex, mehr oder weniger mechanisch, den restlichen Schnee von seiner Kleidung klopfte, rief er hinter dem Alten her.
„Wieso ist Ihnen dieses Leben das liebste von allen?“
Der Alte hatte schon fast den Waldrand erreicht als er sich ohne umzudrehen zurückrief:
„Weil ich es jetzt und hier lebe und weil ich mit Freude in die Zukunft blicke! Machen Sie es gut, junger Freund, in Ihrem Leben, jetzt und hier und in Ihrer Zukunft!“
Er hob noch einmal seinem Stock in die Höhe, so als wolle er damit der Morgensonne den Weg für den Tag weisen. Und schon im nächsten Augenblick war er im Halbschatten des Waldes verschwunden.

ENDE

Zuletzt geändert: 2010/02/24 18:31