Das Experiment

von Michael Stegmann

„Wir sollten die Energiezufuhr um weitere fünf Prozent erhöhen.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, oder sollen wir etwa kurz vor dem Durchbruch aufgeben?“
„Nein, natürlich nicht. Aber darf ich Sie nur daran erinnern, dass die letzten Versuche mit der völligen Destabilisierung der Metrinoteilchen endeten, bevor eine Datenaufzeichnung stattgefunden hat. Die Observationskammer war für mehrere Wochen verunreinigt und konnte nicht genutzt werden.“
„Die Kapazität des Eindämmungsfeldes wurde um zweihundert Prozent erhöht. Die Observationsmatrix der Kammer ist viel stabiler als damals. Wir sollten es jetzt wagen. Stellen Sie sich nur vor, was das für die Forschung bedeutet, wenn dieses Experiment nun endlich klappen würde. Wir wären die ersten, die eine detaillierte Analyse eines Metrinoteilchens bekämen. Endlich hätten wir eine Antwort auf die Frage, ob die Metrinos wirklich die kleinsten Teilchen im Kosmos sind. Das ist ein bedeutender Schritt in der Erforschung der Teilchenphysik, den man uns zu verdanken hat.“
„Sie haben Recht. Wir haben nichts zu verlieren. Es sei denn, die anderen kämen uns zuvor.“
„Und das wollen wir ja nicht, oder?“
„Natürlich nicht. Ich werde sofort die Feldleistung der Observationsmatrix erhöhen.“


Schon seit Wochen wütete ein gewaltiger Sturm vor den Küsten Europas. In nahezu allen Küstenstädten war der Notstand ausgerufen worden. Einige Dörfer in den flacheren Regionen waren schon vor einer Woche, trotz des Widerstandes der Bevölkerung, evakuiert worden. Es hatte dort einfach schon zu viele Tote und Verletzte gegeben. Überhaupt spielte das Wetter in diesem Jahr völlig verrückt. Sintflutartige Regenfälle in Regionen der Welt, die sonst bestenfalls alle zehn Jahre eine Wolke zu Gesicht bekamen; Tornados, Hurrikans, Sturmfluten wechselten sich ab mit mehrwöchigen, extremen Hitzeperioden. Zeitweise stiegen die Temperaturen auf über sechzig Grad und mehr. Zweidrittel der Ernten war bereits jetzt schon vernichtet und niemand wusste, wie lange das Ganze noch dauern würde. Noch nicht einmal die Wissenschaftler hatten eine plausible Erklärung für dieses globale Phänomen.
Sicherlich gab es genügend Theorien und damit verbundene Schuldzuweisungen. Umweltschützer und Klimaforscher, deren Warnungen vor einem Klimagau vor nicht all zu langer Zeit nicht allzu ernst genommen worden sind, fühlten sich nunmehr durch diese Katastrophen bestätigt. Aber auch andere Stimmen wurden laut, dass ein solch abrupter Effekt nichts mit den globalen Klimaveränderungen der letzten Jahrzehnte zu tun haben könne. In der Tat hatten Wissenschaftler unterschiedlicher Fakultäten Beobachtungen machen können, die weitreichender waren, als die Wetterveränderungen auf der Erde. z.B. war die Frequenz der Mega-Eruptionen auf der Sonne um ein Vielfaches angestiegen, was eine erhebliche Verstärkung des Sonnenwindes zur Folge hatte. Fast zeitgleich hatte sich das Erdmagnetfeld in eklatantem Maß verstärkt und völlig neu ausgerichtet. Aber die wohl verblüffendste aller Beobachtung war die, das die Tage und Nächte kürzer wurden. Zunächst kaum spürbar aber mit zunehmender Geschwindigkeit rotierte die Erde um ihre Achse, so dass der Tag-Nacht-Wechsel sich jeden Tag um zwei Minuten verkürzte. Ein Erdentag dauerte nicht mehr länger als knapp dreiundzwanzig Stunden. Die Radiotelekopie sowie auch einfache astronomische Beobachtungen wiesen im wissenschaftlichen Sinne erhebliche Unregelmäßigkeiten auf.

„Also gut, ich denke, angesichts der katastrophalen Lage können wir auf die üblichen Höflichkeitsfloskeln verzichten. Ich brauche eine Antwort und zwar schnell. Bitte verschonen Sie mich mit diesen verdammten wissenschaftlichen Details. Davon habe ich mir in den letzten Wochen mehr als genug anhören müssen. Wie lange können wir , wenn das so weiter geht, noch durchhalten?“
„Unter der Voraussetzung, dass die Zunahme der Veränderungen linear und nicht…“
„WIE LANGE?!
„Eine, maximal zwei Wochen. Dann hat sich die Erdkruste in Folge der zunehmenden Rotationsgeschwindigkeit derart destabilisiert, dass sie auseinanderbrechen wird. Sollte sie wiedererwarten standhalten, wird die bis dahin auf das zweihundertfache angestiegene Infrarotstrahlung der Sonne, alles Leben auf der Erdoberflächen weggebrannt haben.“
„Ist das sicher?“
„Nun ja, ich wünschte, ich könnte Ihnen positivere Fakten liefern, aber wir können von Glück reden, wenn unser Sonnensystem die nächste Woche noch übersteht. Spätesten in der übernächsten wird alles vorbei sein.“
„Nun, meine Herren. Ich denke, Sie werden meiner Meinung sein, wenn wir diese Information nicht in die Welt hinaus posaunen. Wir können ohnehin davon ausgehen, dass die meisten schon gespürt haben, dass es zu Ende geht. Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit und Mitarbeit. Und nun gehen Sie zu Ihren Familien. Gott sei mit Ihnen.“

Die Erdkruste schälte sich ab wie die Schale einer reifen Orange. Eines der davon driftenden Fragmente prallte mit dem Mond zusammen und schleuderte ihn wie den Baseball eines Riesen in die Weite des Alls. Die inneren Planeten des Sonnensystems, Merkur, Venus und Mars teilten dieses Schicksal fast zeitgleich mit ihrer blauen Schwester. Jupiter und Saturn zerfielen in riesige Nebelspiralen, die nichts mehr mit ihrer Ursprungsform gemein hatten. Die letzten vier Planeten, Uranus, Neptun und Pluto, verließen ihre Umlaufbahn, als wären sie von einem unsichtbaren Billardqueue einfach weggestoßen worden. Das kosmische Schauspiel wurde von dem ultrahellen Schein einer kollabierenden Sonne überstrahlt.
Vielleicht würden sich die auseinander strebenden Masse schon in wenigen hunderttausend Jahren mit anderen Himmelkörpern der Galaxis vereinigen und zu einem neuen Sonnensystem formieren. Vielleicht würde einer der auf dieser Weise neu entstandenen Planeten Bedingungen hervorbringen, die die Entstehung einer oder mehrerer Lebensformen ermöglichen würden. Vielleicht sogar Lebensformen mit Verstand.


„Haben Sie die Aufzeichnung?!“
„Ich denke, dieses mal war die Bestrahlungsintensität ausreichend. Das optimierte Eindämmungsfeld hat den Zerfall des Metrinoteilchens um zwei Nanosekunden verzögert.“
„Das sollte für eine Detailanalyse noch vor der Destabilisierung des Metrinos gereicht haben. Lassen Sie uns nun die Datenspeicher abrufen.“
„Sehen Sie hier, das Metrinoteilchen, so wie wir es schon lange kennen. Ich werde nun die Auflösung erhöhen.“
„Das ist ja phantastisch! Können Sie das auch erkennen? Das Metrino hat Gesellschaft. Es befinden sich mindestens fünf, sechs, wenn nicht sogar neun oder mehr Teilchen im nächsten Umkreis. Und wir dachten, Metrinos wären der Kern aller Materie.“
„Ich schätze, wir haben noch viel zu tun. Es würde mich nicht wundern, wenn wir bei der Erforschung des Mikrokosmos auf noch kleinere Teilchen stoßen. Gratulation 7-AH-002, wir werden berühmt.“
„Danke, 95-T-2B. Nur schade, dass Metrinos so kurzlebig und instabil sind. Ich werde die Observationskammer morgen für einen weiteren Versuch reinigen.“

ENDE

Zuletzt geändert: 2010/02/25 09:20