Freddy


von Michael Stegmann

Martha Rugers schaute auf die Uhr. Es war dreiundzwanzig Uhr siebzehn. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sich die brennenden Augen. Vergeblich versuchte sie, die Verspannungen ihres Rückens zu lockern. Schon viel zu lange hatte sie heute am Computer zugebracht. Aber da waren einfach noch zu viele Fragen und viel zu wenig Antworten.
“Antworten, Antworten, wir brauchen Antworten und zwar schnellstens, sonst ist es bald aus”, dachte sie.
Sie wollte gerade wieder eine neue Versuchssimulation starten, als die Tür geöffnet wurde und ein Mann Ende Fünfzig das Labor betrat.
“Hallo Martha! Gut, daß du noch hier bist. Ich habe gerade mit Professor Hartmann aus Zürich telefoniert. Es gibt Neuigkeiten, schlechte Neuigkeiten.”
Martin Kunerth, Professor im Virologischen Institut Köln, war ein langjähriger Kollege von Martha. Er und Martha hatten 1998 bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen den HIV-Virus einen Durchbruch errungen, der ihnen und drei weiteren Wissenschaftlern den Nobelpreis in Medizin eingebracht hatte. Doch die Freude des Sieges über eine Geißel der Menschheit wurde durch die jüngsten Ereignisse getrübt, um nicht zu sagen zur Nichte gemacht.
“Ach Martin, du bist es! Welche Neuigkeiten können denn noch schlechter sein, als die von letzter Woche?” “Das wirst du gleich erfahren,” sagte er mit angespannter Stimme.
“In den letzten vierundzwanzig Stunden hat man versucht alle Daten per SupraNet zusammenzufassen und auszuwerten. Und man ist zu einem erschreckenden Ergebnis gekommen. Professor Hartmann hat es mir gerade telefonisch bestätigt.”
Die Lage mußte sich erheblich verschlechtert haben. Sie kannte Martin. Er war nicht der Typ Mensch, der dazu neigte, eine Sache unnötig zu dramatisieren.
“Und, wie steht es um den Homo sapiens der Neuzeit?”
“Sie wollen alles noch mal überprüft aber wenn die Amerikaner zu dem gleichen Resultat kommen, dann war der HIV-Virus der reinste Schnupfen. Man schätzt, daß innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ca. sechzig Prozent der Weltbevölkerung mit diesem verdammten Virus infiziert sein wird.”
Martha ließ ihre Brille, die sie sich gerade wieder aufsetzen wollte, vor Entsetzen auf den Tisch fallen. Sie hatte zwar schon geahnt, daß es schlimmer sein würde, als zunächst gedacht, aber damit hatte sie nicht gerechnet. Zumindest nicht so schnell.
“Was! Das ist doch nicht möglich! So schnell kann er sich nicht verbreiten.”
Mit einem Schlag war jegliche Müdigkeit verflogen.
“Selbst wenn wir alle Möglichkeiten der Übertragung in Betracht ziehen, und du weißt, daß wir immer noch nicht genau wissen, wie der Virus übertragen wird, dann ist es trotzdem unmöglich, daß sich die Anzahl der Infizierten innerhalb von zwei Tagen verhundertfacht.”
“Das dachten wir bisher auch, Martha. Tatsache ist, daß, sofern die Berechnungen stimmen, spätestens in zwei Tagen die gesamte Menschheit infiziert ist. Mittlerweile glaube ich auch nicht mehr, daß sich der Virus auf die uns bekannten Übertragungswege verbreitet.”
“Und wie verbreitet er sich deiner Meinung nach?”
“Ich weiß es nicht, Martha. Niemand weiß das im Moment. Die Standardtests haben zu keinem greifbaren Ergebnis geführt. Der Virus hat sich seit dem Zeitpunkt seines globalen Auftauchens ebenso global verbreitet. Und zwar absolut gleichmäßig.”
“Wie macht er das nur?”
“Meine Theorie ist, daß er sich überhaupt nicht verbreitet. Ich vermute, daß alle Menschen ihn schon seit längerem oder sogar schon immer hatten. Und zwar so, daß niemand ihn entdecken konnte. Das würde auch erklären warum Menschen, die schon seit Monaten vollkommen isoliert von der Umwelt gelebt haben, plötzlich erkrankten. Auf die Tour haben die Russen und Amis schon einige Atom U-Boote und Kriegsschiffe verloren. Das war bisher allerdings noch geheim.”
“Das wird ja immer mysteriöser. Wie sieht es denn überhaupt mit der derzeitige Sterblichkeitsrate aus oder konntest du sonst noch irgendwelche Einzelheiten in Erfahrung bringen?”
“Ja, aber es ergibt keinen Sinn. Seit dem Freddy…”
“Freddy?!”
Martha schaute erstaunt zu Martin, der sich inzwischen auf die Ecke der Computerkonsole niedergelassen hatte. “Ist das etwa der neue Name für diesen Killervirus?”
“Na ja, so sind halt unsere amerikanischen Kollegen. Aber ganz unrecht haben sie nicht mit dem Namen, denn unser Virus ist ebenfalls ein Alptraum genauso wie Freddy Krüger in den Horrorstreifen der achtziger Jahre.”
Martha runzelte die Stirn.\\
“O.k., lass’ hören, was Freddy in der kurzen Zeit seines Wirkens angerichtet hat.”
“Nun, wie ich vorhin schon erwähnte, ist Freddy nach heutigem Wissensstand weltweit annähernd zum gleichen Zeitpunkt aufgetaucht. Nachdem die, nicht zu erklärenden, plötzlichen Todesfälle Kontinent übergreifend rapide zunahmen, haben wir, wie du ja weißt, ziemlich schnell angefangen, nach den Ursachen zu suchen und sind auf Freddy gestoßen.”
“Und zwar recht schnell”, erwiderte Martha.
“Ja, nicht zuletzt deshalb, weil wir ja genügend Erfahrungen mit dem HIV-Virus gesammelt hatte.”
“Und”, fuhr Martha fort, “weil wir ihn wesentlich leichter nachweisen konnten als HIV, stimmt’s Martin?”
“Das ist richtig. Und du erinnerst dich, daß wir dachten, wir könnten Freddy mit der gleichen, wenn auch modifizierten Methode, begegnen wie unserem altbekannten HIV-Virus.”
Martha nickte.
“Aber Freddy hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auf jede nur erdenkliche Art und Weise antwortete er in kürzester Zeit mit einer ausgeklügelten Variante der Verteidigung, so als hätte er unseren Angriff erwartet.”
Martin stand auf und ging zu einem Noteboard an der Wand. Er nahm einen Filzstift, skizzierte einer Weltkarte und markierte einige Regionen auf den verschiedenen Kontinenten mit einem roten Farbstift.
“Hier, hier und hier wurde die höchste Sterblichkeitsrate festgestellt.”
Martha starrte auf die Skizze.
“Mein Gott, das sind praktisch alle Industrienationen!”
“Ja, vor allem die Großstädte sind betroffen. Aber nicht nur. Es gibt Ort, wo so gut wie keine Industrie angesiedelt ist und trotzdem liegt dort die Sterblichkeit bei fast achtzig Prozent. Außergewöhnlich ist die Entwicklung hier in Indien und Zentralchina. Auch hier auf Grönland oder diversen Inseln hier und hier sind zwar die Infektionsraten enorm hoch aber im Vergleich zu anderen Regionen sterben dort kaum Menschen. Ich dachte erst, es läge an dem stockenden Informations- und Datenfluß aus den Gebieten aber die Beobachtung scheint sich allmählich zu erhärten.”
“Und wie hoch ist die Sterblichkeit z.Z. weltweit?”
Martha bemerkte, daß es Martin sichtlich schwer viel, zu antworten.
“Ich sagte ja schon, daß das von Region zu Region unterschiedlich ist aber nach neusten Meldungen aus dem SupraNet sind schon über fünfzig Millionen Menschen gestorben. Allein in Deutschland sind es fast drei Millionen.”
Martha schüttelte resignieren den Kopf und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Auf den ersten Blick war kein Zusammenhang zwischen der Infektions- und Sterblichkeitsrate zu erkennen. Die Übertragungswege waren noch genauso unbekannt wie die Chancen, eine solche Infektion zu überleben. Tatsache war, daß nichts aber auch gar nichts funktionierte, was die Bekämpfung des Virus anging. Noch nicht einmal der HIV-Impfstoff hatte bisher die geringste Wirkung gezeigt. Ganz im Gegenteil. Freddy antwortete mit zahlreichen Varianten und damit nahm seine Gefährlichkeit enorm zu. Auch war vollkommen ungeklärt, warum zuvor kerngesunde Menschen schon kurz nach der Ansteckung starben jedoch andere sogenannte Risikogruppen oder Menschen mit eingeschränktem Immunsystem sich trotz Freddy bester Gesundheit erfreuten. Und das schon von Anfang an. Das Krankheitsbild sah immer gleich aus. Zunächst fielen sie in einen Koma ähnlichen Zustand. Nach ca. vierundzwanzig Stunden erwachten sie in völliger geistiger Klarheit und dann starben sie. Einige besondere Phänomene wurden weltweit beobachtet. Alle Sterbenden hatten keinerlei Anzeichen von Angst oder gar Panik. Auch schien es so, als wären Säuglinge und Kinder überhaupt nicht betroffen. D.h. sie waren zwar schneller infiziert als Erwachsene aber sie erkrankten nicht. Bei allen bisher untersuchten Tierarten gab es keinen einzigen Infektionsfall. Man konnte also davon ausgehen, daß sich Freddy nur auf die Menschheit gestürzt hatte.
“Hätten wir doch nur mehr Zeit”, dachte sie.
Aber sie wußte, daß ihnen nicht mehr viel davon blieb. Sie selbst hatte sich schon vor drei Tagen getestet und mußte damit leben, daß auch sie infiziert war. Sie konnte es Martin ansehen, daß er es wußte aber er stellte keine Fragen.
Wahrscheinlich war er auch infiziert. Aber was spielte das alles jetzt noch für eine Rolle. Martha stand auf und sah Martin an.\ß “Ich glaube, ich brauche etwas Schlaf. Ich habe die letzten Tage kaum ein Auge zu gemacht.”
“Ich weiß,” sagte Martin. “Ich werde mich noch mal kurz ins SupraNet einloggen und dann lege ich mich auch ein bißchen hin. Du bleibst doch hier im Institut, oder?”
“Ich denke schon”, antwortete sie ihm. “Ist wohl sicherer hier. Wir haben ja ganz tolle Ruheräume im Westflügel.”
Sie verabschiedete sich von Martin mit einem ironischen Lächeln und wollte gerade das Labor verlassen als er noch etwas zu ihr sagte.
“Wenigstens erwischt es diesmal auch die Bösen.”
Martha überlegte kurz.
“Was meinst du damit, Martin?”
“Na ja, aus allen ehemaligen Krisengebieten der Welt meldet man die höchste Sterblichkeit. Da ist jetzt auf jeden Fall Ruhe.” “Ich schätze, wenn das so weiter geht, wird bald überall Ruhe einkehren”, erwiderte Martha und ging zur Tür.
Martin starrte wieder auf seine Skizze.
“Das glaube ich auch”, sagte er mehr zu sich selbst als seine Kollegin das Labor verließ.
Martha machte sich auf den Weg in den Westflügel des Instituts. Es war relativ still im Gebäude. Dort, wo vor einer Woche noch Menschen hektisch durch die Flure eilten, war nun eine gespenstische Ruhe. Die meisten Mitarbeiter des Instituts waren bei ihren Familien. Es wurde niemand gezwungen hierzubleiben. Nachdem die Anzahl der Toten rapide zugenommen hatte, wurde es in der Stadt zunächst unruhig. Infolge dessen wurde von der Regierung, oder was noch davon übrig geblieben ist, der Ausnahmezustand ausgerufen. Aber das war jetzt nur noch eine reine Formsache, denn man merkte recht bald, daß die üblicherweise auftretenden Probleme, wie Plünderungen, Vandalismus und Gewaltübergriffe, sich praktisch von selber lösten. Die betreffenden Personen erkrankten unmittelbar während oder nach der Tat.
Martha hatte sich entschlossen im Institut zu bleiben. Das Institutsgelände war halbwegs sicher und zu Hause wurde sie von niemandem erwartet. Sie mußte plötzlich an die Nobelpreisverleihung in Stockholm denken. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, wo sie, Martin und noch drei weitere Wissenschaftler für die hervorragenden Leistungen im Diensten der Menschheit geehrt wurden. Es war einer der glücklichsten Tage in ihrem Leben. Das war vor zwei Jahren. Und jetzt, wo das zweite Jahrtausend der westlichen Zeitrechnung kurz vor der Vollendung stand und die Menschheit vor ihrer wohl größten Prüfung gestellt wurde, fragte sie sich, was sie für die Wissenschaft alles geopfert hatte. Sie war jetzt Ende vierzig, ohne Kinder und unverheiratet.
“Ich kann keine Familie gründen, wenn ich hundertprozentig hinter meinen Job stehen will”, hatte sie immer gesagt. Martin dachte ähnlich. Auch er war meistens ohne feste Bindung. Martin das Arbeitstier, hieß es immer.
Der Ruhebereich war nichts anderes, als eine Aneinanderreihung von spartanisch eingerichteten Zimmern. Dort angekommen ging sie rasch zu Bett. Doch sie konnte, obwohl sie tot müde war, nicht sofort einschlafen. Immer wieder mußte sie an all die Zahlen, Fakten und Ereignisse denken, die in den letzten Tagen auf sie eingestürzt waren. Und einige Fakten wollten ihr nicht aus dem Sinn gehen.
Was hatte Martin zuletzt gesagt ? Wenigstens erwischt es diesmal auch die Bösen… sie erkranken sofort, wenn sie Gewalt anwenden…keine Tiere infiziert…keine Säuglinge und Kinder erkrankt…
Warum ist noch kein einziges Kind erkrankt? Vielleicht hatte das ja alles einen Sinn. Vielleicht war Freddy nicht nur ein Alptraum sondern die Quittung auf eine offene Rechnung der Menschheit mit der Schöpfung. Vielleicht steckte hinter Freddy ein intelligentes Prinzip. Aber welches? Mit dieser Frage schlief Martha endlich ein.
Sie träumte von einem sieben Jahre alten Mädchen, welches alleine in Mitten einer großen Lichtung stand. Sanfte Sonnenstrahlen tauchten den Ort in ein wunderschönes Grün. Trotz der Einsamkeit hatte sie keine Angst. Im Gegenteil, sie fühlte sich wohl und geborgen. Allmählich traten andere Kinder aus dem Schatten des Waldes auf die Lichtung. Sie näherten sich dem Mädchen und bildeten einen Kreis um sie. Die Gesichter der Kinder kamen ihr vertraut vor und auch das Mädchen in der Mitte war ihr nicht unbekannt. Sie war es selbst.
“Weist du, warum wir hier sind?”, fragte eines der Kinder mit freundlicher Stimme.
“Ich glaube schon”, antwortete Martha. “Wir haben verstanden, warum Freddy zu uns gekommen ist.”
“Und weist du auch warum er zu uns gekommen ist?”, fragte ein anderes Kind. “Freddy ist gekommen, um auf uns aufzupassen. Er ist sehr streng aber gerecht. Er bestraft jeden, der Unrecht tut oder der Schöpfung ein Leid zufügt.”
“Weist du denn auch, wie lange Freddy bleiben wird?”
“Ja”, antwortete Martha. “bis wir alle gelernt haben, auch ohne ihn auszukommen”
Die Kinder nickten zustimmend. Eines nach dem anderen kam zu ihr und umarmten sie zur Begrüßung. Die Angst vor dem, was passieren würde wich plötzlich einem wunderbaren Gefühl der Sicherheit.
Als Martha aufwachte, war es schon hell draußen. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht. Die Anstrengungen der vergangenen Tage schienen wie weggeblasen. Als sie in den Spiegel schaute, sah sie für einen Moment das Mädchen aus ihrem Traum. Sie lächelte. Die Menschheit hat noch einmal eine Chance bekommen. Davon war sie jetzt überzeugt.
Nun liegt es an uns, sie zu nutzen, dachte sie bei sich.
Es würde nicht leicht werden aber hatte die Menschheit es sich in den letzten Jahrzehnten nicht schon viel zu leicht und bequem gemacht und dabei den Sinn der Schöpfung aus den Augen verloren? Sie würden lernen, Freddy als ihren Freund zu betrachten und dann würden sie irgendwann erkennen, daß es auch ohne ihn hätte gehen können.

ENDE